Tagungsbericht 12. Europäische Konferenz für Gesundheitsförderung in Haft

«Äquivalenzprinzip im Faktencheck»

Die 12. Europäischen Konferenz für Gesundheitsförderung in Haft, die am 25. und 26. Mai in Murten (Schweiz) stattfand, war ein voller Erfolg. Mit mehr als 210 Teilnehmerinnen und Teilnehmern stiess das Thema «Äquivalenzprinzips im Faktencheck» auf grosses Interesse – was auch an seiner Breite liegen dürfte: Es betrifft nicht nur die unmittelbare medizinische Versorgung von körperlichen und psychischen Beschwerden. Sondern wirft auch eine Vielzahl rechtlicher Fragen auf und berührt die Sicherheitskonzepte und Bauweisen von Haftanstalten. Alle diese Aspekte wurden an der Tagung angeschnitten. Erfolgsmodelle wurden präsentiert, neue Wege diskutiert.

Es zeigte sich, dass die Gesundheitsversorgung von inhaftierten Menschen in den letzten Jahren und Jahrzehnten ins Blickfeld von Behörden und Gesellschaft gelangt ist. Bei der Umsetzung des Äquivalenzprinzips – dass Inhaftierte eine gleichwertige Gesundheitsversorgung erhalten wie Menschen in Freiheit – gibt es Fortschritte zu verzeichnen. Doch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren sich einig: Es gibt noch viel zu tun.

Eine Herausforderung ist bereits die Definition von Äquivalenz. Inhaftierte Menschen sind vulnerabel und gesundheitlich oft angeschlagener als Menschen in Freiheit. Sie benötigen eine bessere, intensivere und umfassendere Gesundheitsbetreuung – eine Äquivalenz der Versorgung reicht nicht. An der Konferenz entstanden deshalb die Begriffe «Äquivalenz plus» oder «Adäquanz». Ihr Ziel ist nicht eine gleichwertige Behandlung, sondern ein gleichwertiger Gesundheitszustand. Es wird einen gesellschaftlichen Kraftakt brauchen, um diesen zu erreichen. Doch die Teilnehmenden waren sich einig, dass es sich lohnt, daraufhin zu arbeiten.


24. Mai 2022


Diskussionsrunde: Gesetzliche Krankenversicherung für inhaftierte und untergebrachte Menschen: Warum Veränderungen notwendig erscheinen und welche Lösungsansätze möglich sind – ein Blick über die Grenzen

Die Diskussion ergab verschiedene Ansatzpunkte, um die medizinische Versorgung von inhaftierten Menschen zu verbessern. Die gesetzlichen Vorgaben unterscheiden sich von Land zu Land. In Deutschland, Österreich und Luxemburg wird die Krankenversicherung bei Haftantritt pausiert. Während der Haft kommt der Staat für die medizinische Betreuung auf. Probleme tauchen in diesem System nach der Haftentlassung auf: Manchmal, so sagten Teilnehmerinnen aus Deutschland, dauere es Wochen, bis die zuständigen Behörden einen Entlassenen wieder der Krankenversicherung unterstellt haben. Auch in Österreich sorgen solche Schnittstellen für Schwierigkeiten: Mit dem Aufkommen der elektronischen Gesundheitsakte etwa besteht die Gefahr, dass Menschen bei Haftantritt wichtige Gesundheitsdaten verlieren, weil sie aus der Krankenversicherung ausscheiden.

In der Schweiz läuft die Krankenversicherung während der Haft weiter. Allerdings hat ein grosser Anteil der Häftlinge keinen Wohnsitz in der Schweiz. Gemäss dem Äquivalenzprinzip übernimmt der Staat die Gesundheitskosten für diese Menschen. Immer öfter aber versuchen Kantone einen Teil der Krankheitskosten auf die Häftlinge zu überwälzen. Diskussionsrunden-Moderator Hans Wolff warnte davor: Schon eine geringe Kostenbeteiligung führe dazu, dass manche Häftlinge auf medizinische Leistungen verzichteten. Der Staat begründet die Kostenbeteiligung mit dem Äquivalenzprinzip – auch die breite Bevölkerung muss einen Teil der Gesundheitskosten selbst tragen. Das lässt laut Teilnehmenden den Fakt ausser Acht, dass Menschen im Gefängnis nicht oder nur wenig eigenes Geld verdienen können. Der Bundesrat hat die Lage erkannt und angekündigt, eine Gesetzesvorlage auszuarbeiten, die auch Häftlinge ohne Wohnsitz in der Schweiz der obligatorischen Krankenversicherung unterstellt. 


25. Mai 2022


Eröffnung: Patrick Cotti, Direktor SKJV

Patrick Cotti betonte in seiner Begrüssungsrede, dass Gesundheitsfragen zentrale Fragen im Justizvollzug seien. Inhaftierte Personen sind vulnerabel. Einerseits aufgrund der Haft. Andererseits, weil sie oft schon gesundheitlich angeschlagen in Haft kommen. Diese Menschen dürfen bezüglich ihrer gesundheitlichen Betreuung nicht benachteiligt werden – das Thema der äquivalenten Gesundheitsversorgung sei brandaktuell, sagte Cotti. «Menschen in Haft befinden sich nicht ausserhalb der Gesellschaft.»


Eröffnung: Ursula Klopfstein-Bichsel (Nationale Kommission zur Verhütung von Folter NKVF)

Die NKVF hat in der Schweiz den gesetzlichen Auftrag, die Gesundheitsversorgung in Einrichtungen des Freiheitsentzugs zu überprüfen. Die Kontrolle, ob das Äquivalenzprinzip eingehalten werde, sei ein wichtiger Teil davon, sagte Ursula Klopfstein-Bichsel. Generell sei die Sensibilisierung für eine gute Gesundheitsversorgung in den Vollzugsanstalten hoch. Trotzdem bleiben Überprüfungen wichtig. Als Beispiel nannte Klopfstein-Bichsel die Behandlung von psychiatrischen Symptomen, unter denen in manchen Anstalten mehr als die Hälfte der Inhaftierten leiden. Überprüfungen zeigen, dass Schweizer Justizvollzugsanstalten mit solchen Menschen ganz unterschiedlich umgehen. Insgesamt sei die Therapie ungenügend. Vielfach würden psychisch Erkrankte mit Medikamenten «ruhiggestellt». Auch die besonderen therapeutischen Bedürfnisse von inhaftierten Frauen – regelmässige Screenings, Hilfe bei Menstruationsbeschwerden oder Schwangerschaften – seien nicht immer erfüllt.

Plenumsvortrag: Äquivalenzprinzip – was heisst das eigentlich? Jörg Pont, Wien
Das Äquivalenzprinzip wird üblicherweise definiert als die Forderung, dass Menschen im Strafvollzug eine gleichwertige Gesundheitsversorgung erhalten wie Menschen in Freiheit. Doch die Frage, was eine gleichwertige Behandlung sei, lasse sich nicht so einfach beantworten, sagte Jörg Pont. Denn nicht jede Person ausserhalb der Gefängnismauern hat denselben Zugang zum Gesundheitssystem. Zudem stelle sich die Frage, worauf sich «gleichwertig» beziehen solle: auf den personellen und materiellen Aufwand? Auf die Leistungen? Auf das Ergebnis, also den erzielten Gesundheitsstand? Pont plädierte dafür, das Äquivalenzprinzip in letztere Richtung weiterzuentwickeln. Viele Gesundheitsstörungen sind in Haft deutlich häufiger. Inhaftierte sind deshalb nicht auf eine gleichwertige, sondern auf eine bessere Gesundheitsversorgung angewiesen als Menschen in Freiheit. Der Referent prägte für dieses Ziel einen neuen Begriff: «Äquivalenz plus».

Plenumsvortrag: Rise-vac – Äquivalenz in der Impfpraxis. Babak Moazen, Frankfurt
Impfungen zählen zu den wirksamsten Massnahmen, um Infektionskrankheiten zu verhindern. Das Projekt Rise-vac, ein vom EU-Gesundheitsprogramm finanziertes Forschungsprojekt, hat zum Ziel, die Impfquote in Gefängnissen zu erhöhen – und damit zur Verbesserung des Gesundheitszustandes von Inhaftierten beizutragen. An dem Projekt, das von 2021 bis 2024 läuft, sind neun Institutionen aus sechs Ländern beteiligt. Ziel sei es, die Impfkompetenz, das Impfangebot und die Impfannahme im Strafvollzug zu verbessern, sagte Babak Moazen. Erreichen wollen das die Forschenden mit Kursen für Strafvollzugspersonal und mit massgeschneiderten Materialien für Inhaftierte. Zentral ist die Aufklärung. Broschüren erläutern die Impfhintergründe, zeigen die Vorteile von Impfungen auf, vermitteln Impfwissen und weisen auf Impfstoffe hin, die in Gefängnissen besonders wichtig sind.

Plenumsvortrag: Neue Ansätze aus Norwegen (Gefängnisorganisationen), Are Høidal, Haftanstalt Halden
Are Høidal war 14 Jahre lang Gefängnisdirektor in der Haftanstalt Halden südöstlich von Oslo. Die Hochsicherheitsanstalt, in der 250 Häftlinge Platz finden, gilt als eine der modernsten Strafanstalten der Welt – und als eine der humansten. Sie ist umgeben von einer sechs Meter hohen Mauer. Aber innen sieht sie nicht aus wie ein Gefängnis. Die Insassen sollten so ähnlich wie möglich leben wie Menschen ausserhalb der Gefängnismauern, sagte Are Høidal. Nach norwegischem Recht ist der Freiheitsentzug die einzige Bestrafung für Straftäter. Alle übrigen Rechte behalten sie. In Halden bewohnt deshalb jeder Insasse eine Einzelzelle, die wie eine Wohnung eingerichtet ist. Er startet den Tag mit dem Frühstück und geht dann einer Arbeit nach oder widmet sich einer Ausbildung. Wie er seine Freizeit verbringen möchte, bestimmt er selbst. Die Gefängniswärter bezeichnen sich in Halden als «Sozialarbeiter». Jeder von ihnen ist für drei Insassen zuständig – nicht nur punkto Sicherheit, sondern als Ansprechpartner für alle Belange. Er unternimmt auch Freizeitaktivitäten mit seinen «Schützlingen». Der Fokus in diesem Inhaftierungssystem liegt laut Høidal von Anfang an auf einer Wiedereingliederung in der Gesellschaft. Deshalb sind Ausbildungen, Schuldenberatungen, aber auch die Gesundheit und das Wohlbefinden besonders wichtig.

Plenumsvortrag: Neue Ansätze aus der Schweiz (Gefängnisorganisationen), Roland Zurkirchen, Untersuchungsgefängnisse Zürich
Im Kanton Zürich findet die Untersuchungshaft in separaten Anstalten statt. Es sind oft alte Gebäude mit engen Platzverhältnissen. Trotzdem versuche man auch hier, die Haftbedingungen zu verbessern, sagte Roland Zurkirchen. Ein Beispiel: Bisher durften sich Untersuchungshäftlinge nur eine Stunde pro Tag ausserhalb ihrer Zelle bewegen. Kürzlich hat der Kanton beschlossen, diesen Anteil auf acht Stunden zu erhöhen. Laut Zurkirchen ist es wichtig, schon vom ersten Tag der U-Haft an auf eine Wiedereingliederung hinzuarbeiten. Ein Mittel dafür ist es, die Mitbestimmung und Selbstgestaltung des Tages der Häftlinge zu fördern. Arbeit und Beschäftigung werden forciert. In Kreativateliers können Häftlinge eigene Produkte herstellen, sie haben freien Zugang zu Fitness-, Ess-, Musikräumen, Bibliotheken. Auch die Gesundheitsförderung ist wichtig – Meditation, Akupunktur und Kräuterbehandlungen inklusive. Statt eines statischen gilt neu ein dynamisches Sicherheitskonzept, bei dem Sicherheitsleute sich mit den Häftlingen abgeben und auch mal mit ihnen Tischtennis spielen oder einen Zumba-Kurs besuchen. Das funktioniere, sagte Zurkirchen. Die Aufseher hätten trotzdem keine Probleme, Regeln durchzusetzen.

Diskussionsrunde: Neue Wege, Ansätze und Positionen zur Unterbringung von Menschen in Haftanstalten
In Norwegen ist die Zahl der inhaftierten Menschen laut Are Høidal in den letzten Jahrzehnten von ungefähr 5000 auf 3000 gesunken. Zum einen, weil Straftäter vermehrt die Möglichkeit haben, ihre Strafe zuhause abzusitzen. Zum anderen, weil die Rückfallrate aufgrund der verbesserten Wiedereingliederungsmassnahmen deutlich gesunken ist. In den 1990er-Jahren wurden 75 Prozent der aus der Haft Entlassenen innerhalb der nächsten fünf Jahre wieder inhaftiert. Heute sind es noch 25 Prozent. Laut Roland Zurkirchen ist die Arbeit zur Wiedereingliederung vom ersten Tag an ein neuer Ansatz, der auch Einfluss auf die Gesundheitsversorgung in der U-Haft hat. So bedeute dies, dass eine Hepatitisbehandlung nicht aufgeschoben werde, bis das Urteil gefällt ist. Moderator Hans Wolff ergänzte, dass ein guter Tagesablauf einen enormen Einfluss auf die Gesundheit von Häftlingen habe. Ein Regime, bei dem Häftlinge 23 Stunden pro Tag in ihrer Zelle verbrächten, vergrössere den medizinischen Aufwand stark.


Vier Themen an vier Tischen – Corner Stone Lab

Tobacco Harm Reduction (Heino Stöver, D)
Mehrere Studien aus der Schweiz und Deutschland zeigen, dass der Anteil an Raucherinnen und Rauchern unter den Gefangenen bis zu vier Mal so hoch ist wie in der Allgemeinbevölkerung. Viele Gefangene möchten ihren Tabakkonsum einschränken. Bisher existieren nur wenige gefängnisspezifische Rauchentwöhnungsprogramme – Gefangenen stehen dazu oft nicht die Mittel und Methoden zur Verfügung, die Menschen in Freiheit haben (Nikotinersatzprodukte, kognitiv-behaviorale Therapie, Nichtraucherschutzräume etc.). «Tobacco Harm Reduction» meint als komplementäre Strategie klassischer – auf Abstinenz ausgerichteter – Massnahmen vor allem Rauchreduktionsprogramme und alternative Formen der Nikotinaufnahme. Elektronische Zigaretten oder Nikotinpouches spielen eine zunehmend bedeutsame Rolle in dieser Diskussion und sollten auch im Gefängnis angeboten werden.

Telemedizin/Erfahrungen aus der Schweiz (Corinne Stutz, Marcel Ruf, CH)
Die Justizvollzugsanstalt Lenzburg setzt seit 2017 auf Telemedizin zur Gesundheitsversorgung von Häftlingen. Das Programm ist laut den Verantwortlichen ein Erfolg. Entscheidend sei die Technik: Die Verbindung für den Video-Chat muss stabil und qualitativ gut sein. Die digitale Krankenakte muss vom externen Arzt abrufbar sein. Ohne einen verlässlichen medizinischen Partner, der zu jeder Tageszeit zur Verfügung steht, geht es nicht. Nicht zuletzt braucht es Schulung für die Mitarbeitenden des Gesundheitsdienstes, damit sie während der telemedizinischen Beratung Untersuchungen wie einen Ultraschall am Patienten durchführen können.


Projekte Gesundheitsförderung Schweiz (Martin Wälchli, Nora Affolter, CH)

In Zusammenarbeit mit dem SKJV hat das Schweizerische Rote Kreuz eine Erhebung zu den Angeboten zur Gesundheitsförderung im Freiheitsentzug durchgeführt. 37 Institutionen beteiligten sich. Davon verfügen 26 über solche Angebote, zum Beispiel Informationsmaterial zur Suchtprävention. Ungefähr ein Drittel verfügt über ein systematisches Hepatitis-Screening-Programm, ein weiteres Drittel bietet nicht systematische Screenings an. Ein Drittel hat keine Hepatitis-Untersuchungsangebote.


Sicheres Tätowieren (Philippe Poos,
Marco Christophory, L)
Seit 2017 läuft in Luxemburg ein weltweit einzigartiges Programm, welches das bei Häftlingen beliebte Tätowieren im Gefängnis sicherer gestalten soll. Häftlinge tätowieren dabei Häftlinge. Wer tätowieren will, erhält eine kurze Ausbildung bezüglich Hygiene und Sicherheit und übt das Tätowieren zuerst auf einer künstlichen Haut. Die Behörden stellen ein Tätowiergerät und Farben zur Verfügung. Das Programm wird rege genutzt.


Arbeitsgruppen

Arbeitsgruppe 1
Die Betreuung von LGBTIQ+-Personen in Haft: Herausforderungen und gute Praxen
Nicolas Peigné (Genève), Jean-Sébastien Blanc (SKJV)

Jede Anstalt, so zeigte sich in der Arbeitsgruppe, kennt Fälle mit LGBTIQ+-Personen. Doch das Thema ist komplex: Jede Betreuungssituation von LGBTIQ+-Personen, so ergab eine reichhaltige Gruppendiskussion, ist einzigartig. Das Fazit: Wichtig ist es, dass diese Menschen ihre Selbstbestimmung und ihren Raum behalten.

Arbeitsgruppe 2
Umgang mit Selbstverletzungen und Suizid
Didier Delessert (Lausanne); Diane Golay (Genève); Laurent Gétaz (Genève)

In der Arbeitsgruppe ging es einerseits um die Frage, wie Risikofaktoren von Selbstverletzungen oder Suiziden frühzeitig erkannt werden können. In Haftanstalten werden dazu Befragungen durchgeführt. Jene Faktoren zu finden, welche auf ein Risiko hindeuten, ist allerdings nicht ganz einfach. Andererseits diskutierte die Gruppe Massnahmen um zu verhindern, dass Häftlinge allfällige Selbstverletzungs- oder Suizidgedanken in die Tat umsetzen. Wichtig, so das Fazit, ist die Prävention nicht nur für Häftlinge, sondern auch für Angestellte.

Arbeitsgruppe 3
Ideen, die nicht altern: 30 Jahre Spritzenvergabe und über 20 Jahre Heroinvergabe im Schweizer Vollzug
Vera Camenisch (JVA Realta); Irene Aebi (JVA Hindelbank)

In der JVA Hindelbank gibt es seit 1994 ein System des Spritzentauschs für Drogensüchtige, das Infektionen durch verunreinigte Nadeln verhindern soll. Und in der JVA Realta existiert eine heroingestützte Behandlung. Sie wird Insassen angeboten, für die keine andere Behandlung (zum Beispiel Methadonabgabe) möglich ist. In der Arbeitsgruppe herrschte der Konsens, dass diese Programme erfolgreich sind. Daraus ergab sich die Frage, weshalb sie nicht flächendeckend eingeführt werden. Eine mögliche Antwort: Immer noch bestehen diffuse Ängste rund um das Thema; diese Vorurteile gilt es abzubauen.

Arbeitsgruppe 4
Ist das Erstgespräch zum Gesundheitsstatus in der Eingangs-/Zugangsuntersuchung auch durch nicht-medizinisches Personal möglich? Welche Voraussetzungen und Bedingungen müssen gegeben sein?
Markus Eichelberger (Inselspital Bern) Katja Salvisberg (JVA Solothurn), Marc Lehmann (Justizvollzugskrankenhaus D-Berlin)

Die Arbeitsgruppe diskutierte die Frage, ob ein Erstgespräch durch nicht medizinische Personen mehr als eine Not- oder Übergangslösung sein kann. Das Fazit: Wenn, dann braucht es zwingend eine Qualitätskontrolle. Auch muss sichergestellt werden, dass das Aufsichtspersonal damit nicht überfordert wird. Als Alternative bietet sich unter anderem die Telemedizin an – oder natürlich der Ausbau der medizinischen Versorgung in der betreffenden Anstalt.

Arbeitsgruppe 5
Besonders vulnerable Gruppen, alt werden in Haft, Pflegebedürftigkeit, Sterbehilfe
Jörg Pont (Wien); Bernice Elger (Universität Basel); Isabel Baur (SKJV)

Die Arbeitsgruppe diskutierte das grenzübergreifende Problem der Versorgung von vulnerablen Gruppen wie älteren, pflegebedürftigen Häftlingen. Wichtig, so das Fazit, sind das medizinische Erstgespräch sowie regelmässige Sprechstunden oder Untersuchungen. Es herrschte Konsens, dass die Probleme von vulnerablen Insassen nicht ihren Mithäftlingen aufgebürdet werden dürfen. Die Insassen sollen in jedem Zustand und Alter ihrer Selbstbestimmung erhalten können. Dazu braucht es zum Beispiel altersgerechte Arbeitsplätze oder die Möglichkeit, kleinere Arbeiten in der Zelle auszuüben.

Arbeitsgruppe 6
Barrierefreiheit und Inklusion im Justizvollzug
Peter Kastner (Wien); Willy Weyl (Butzbach)

Die Arbeitsgruppe diskutierte das Ziel, die Diskriminierung von Insassen mit einer Behinderung zu verhindern. Es zeigte sich rasch, dass dazu weit mehr als bauliche Massnahmen notwendig sind. Ein essentieller Ansatzpunkt ist die Informationsvermittlung: Texte müssen beispielsweise leicht verständlich abgefasst sein, damit sie von allen verstanden werden. Die Digitalisierung bietet neue Möglichkeiten – in Österreich etwa wird ein Video-Dolmetschsystem verwendet.


26. Mai 2022

Plenumsvortrag: Psychiatrische und psychologische Versorgung im Strafvollzug – Umgang mit Krisen, bestehende und fehlende Versorgungswege: Nora Affolter (SKJV)

Psychische Beschwerden wie Schlafstörungen, Angstzustände, Depressionen, Psychosen oder Traumatisierungen sind häufig in Hafteinrichtungen. Die Suizidrate ist gegenüber Menschen in Freiheit sechs- bis siebenfach erhöht. Betroffene sind verstärkt schutzbedürftig und stellen Institutionen gleichzeitig vor Herausforderungen. Oft wird es vom Personal als ein Spannungsfeld zwischen Gleichbehandlung, Einzelfall und Sicherheit erlebt. In vielen Fällen wollen oder können diese Menschen nicht über ihre Erkrankung sprechen. Äquivalenz in der psychiatrischen Versorgung bedeute, rasch einzugreifen und zu therapieren, sagte Nora Affolter. In die psychische Grundversorgung von Insassinnen und Insassen zu investieren, sei im Interesse der Gesellschaft. Denn die mentale Gesundheit ist ein Schlüsselfaktor für die Wiedereingliederung. Einen innovativen Pilotversuch lancierte laut Affolter das Regionalgefängnis Burgdorf in Zusammenarbeit mit der forensisch-psychiatrischen Klinik der Universität Bern. Psychiatrische Patienten verbringen die Nacht in der Zelle, den Tag in der angrenzenden Tagesklinik.


Plenumsvortrag: Ärztliche Schweigepflicht bei Abschiebehaft: Hans Wolff (KSG)

Hans Wolff zeigte sich besorgt über die Auswirkungen einer Gesetzesänderung, die das Schweizer Parlament im Jahr 2018 verabschiedet hatte. Sie sieht vor, Ärztinnen und Ärzte bei der Ausschaffung oder Abschiebung von Migrantinnen und Migranten von der Schweigepflicht zu entbinden. Ziel ist es, die Weitergabe von Informationen an Ausschaffungsbehörden und -organisationen zu gewährleisten. Die Schweigepflicht sei ein zentraler Wert der ärztlichen Tätigkeit, sagte Hans Wolff. Die Verhandlungen und Diskussionen mit den Behörden seien schwierig. Die Standesorganisationen empfehlen, stets die Zustimmung des Patienten einzuholen, der ausgeschafft werden solle.


Vergabe 6. Johannes-Feest-Preis: Hans Wolff (KSG)

Der Johannes-Feest-Preis wird seit 2014 auf den Europäischen Konferenzen zur Gesundheitsförderung in Haft verliehen. Er geht an Personen und Initiativen, die sich im besonderen Masse um das Thema verdient gemacht haben. Als 6. Preisträger ausgezeichnet wurde Fadi Meroueh, Leiter der Gesundheitsabteilung des Gefängnisses von Villeneuve-lès-Maguelone in Montpellier (Frankreich). Hans Wolff würdigte den Mut und die Entschlossenheit, mit der sich der elektronisch zugeschaltete Preisträger seit Jahren für die Gesundheitsversorgung von Häftlingen einsetzt. Er scheue sich auch nicht vor zivilem Ungehorsam zum Wohl der Patienten. So habe Meroueh in Montpellier ein Nadel- und Spritzenaustauschprogramm gestartet, obwohl es so etwas in Frankreich offiziell nicht gebe. Der Ausgezeichnete bedankte sich für den Preis. Er mache nur seine Arbeit, sagte Meroueh. Und es sei beunruhigend, wenn man einen Preis erhalte, nur weil man seine Arbeit mache.

Diskussionsrunde:
Unsere Gesundheit, unser Leben – was wird benötigt, um Gesundheit zu erhalten und Gesundheit zu fördern?

In der Diskussionsrunde kamen Menschen aus dem Vollzug zu Wort. Ein ehemaliger Häftling erzählte, wie er die Gesundheitsversorgung in insgesamt sechs Anstalten über sechs Jahren Haft erlebt hatte. Zum Teil sei der Zugang zu Gesundheitsleistungen gut gewesen, zum Teil spärlich. Eintrittsgespräche seien enorm wichtig – gerade auch angesichts des sogenannten Haftschocks; er selber wurde an seinem Arbeitsplatz verhaftet. Förderlich für die Gesundheit in der Haft seien Freizeitaktivitäten und Familienkontakte. Neue Technologien könnten letztere vereinfachen, sie würden von Anstalten aber noch kaum verwendet.

Aus der JVA Lingen (Niedersachsen, Deutschland) war eine Gruppe von Insassen elektronisch zugeschaltet. Sie beklagte sich über mangelhafte ärztliche Betreuung. Die Krankenpfleger würden ihre Arbeit verrichten, aber es seien kaum je Ärzte vor Ort – und wenn, dann würden Beschwerden oft nicht ernst genommen. Ein Insasse verwies auf die Wichtigkeit von Beschäftigung für das Wohlbefinden. Eine Arbeit verrichten zu können, gebe ihm das Gefühl, gebraucht zu werden. Auch hier liege vieles im Argen: Zum Teil dauere es Monate, bis Insassen eine Arbeit erhielten.

Plenumsvorträge:
Suizidbegleitung in Haft und Massregel: Andreas Frei (Forensik Psychiatrie Baselland) und Paul-David Borter (Exit)

Andreas Frei lieferte die Fallbeschreibung eines verwahrten Sexualstraftäters, der sich an die Sterbehilfeorganisation Exit gewandt hatte, um in den Freitod begleitet zu werden. Eine Expertise hatte ihn als nicht urteilsfähig bezeichnet, was eine Sterbebegleitung verunmöglicht hätte. Andreas Frei wurde beauftragt, die Urteilsfähigkeit in einem Gutachten zu überprüfen. Er zeigte auf, wie er in seinem Gutachten zum Schluss kam, dass der normal intelligente Mann keine Hinweise auf Psychosen zeigte – und er ihm deshalb Urteilsfähigkeit attestierte.

Paul-David Borter erläuterte, wie der Mann von Exit begleitet wurde. Eine von der SKJV im Jahr 2020 publizierte Orientierungshilfe setzte die Leitplanken für das Vorgehen. Der Mann begründete seinen Sterbewunsch mit einer beginnenden Demenz und seinem unwürdigen Leben ohne die Perspektive, jemals wieder in Freiheit zu kommen. Die Sterbebegleitung wurde nach einer Abklärungszeit von rund dreieinhalb Jahren durchgeführt.

Aus dem Publikum wurde moniert, die Sterbebegleitung könne zu einer bequemen Methode werden, um eine lebenslange Verwahrung zu umgehen. Borter entgegnete, eine Sterbebegleitung in einer solchen Situation in Anspruch zu nehmen, sei kein einfacher Weg. Trotzdem stellt sich laut Teilnehmenden die Frage, wie eine lebenslange Verwahrung erträglich gestaltet werden kann.


Arbeitsgruppen

Arbeitsgruppe 1

« Immigration detention »: Inhaftierte Migrant:innen
Eric Luke (Genève), Anne-Claire Bréchet, Miriam Kasztura, (Genève), Constantin Bondolfi (Lausanne)

Die Rückführung von Personen im Freiheitsentzug ist ein komplexes Feld. In der Arbeitsgruppe kam zum Ausdruck, dass die Rückführungsbehörden oft Druck auf Ärztinnen und Ärzte ausüben, um Informationen über den Gesundheitszustand der Betroffenen zu erfahren. Das führt zu einer möglichen Aufweichung des Arztgeheimnisses. Laut der Gruppe braucht es Formulare und einen Konsens aller Beteiligten aus der Praxis.

Arbeitsgruppe 2
Psychotrope Medikamente in Haft: was geht und was nicht? Lyrica, Rivotril© & Co

Dominique Marcot (Neuchâtel); Patrick Heller (Genève); Nicolas Peigné, (Genève); Leïla Akhrouf (Neuchâtel)

In der Arbeitsgruppe ging es hauptsächlich um den Umgang mit dem Wirkstoff Pregabalin, meist verschrieben unter dem Handelsnamen Lyrica. Er ist zugelassen bei neuropathischen Schmerzen, Epilepsie und Angststörungen. Doch gerade in Nordafrika wird Lyrica oft als Droge benutzt. Immer wieder wird es auch in Schweizer Justizvollzugsanstalten verlangt. In der Arbeitsgruppe zeigte sich, dass der Umgang mit dem Medikament umstritten ist: Während es in Genf fallweise abgegeben wird, lehnen die Gefängnisärzte in der Waadt und in Neuenburg eine Abgabe ab. Für sie ist das Abhängigkeitsrisiko zu hoch, zudem existierten für indizierte Krankheiten alternative Therapien.

Arbeitsgruppe 3
HCV-freie Gefängnisse – erste Praxisbeispiele aus Deutschland

Irmgard Render, (Justizministerium NRW)

Die Arbeitsgruppe diskutierte ein Hepatitis-C-Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen (Deutschland). Mit einer standardisierten Aufklärung wird Häftlingen ein Screening mitsamt allfälliger Behandlung wiederholt angeboten – und ans Herz gelegt. Voraussetzung für eine Behandlung ist, dass diese vor Haftentlassung abgeschlossen werden kann. In Luxemburg existieren solche Projekte schon seit Jahren, in der Schweiz laufen in mehreren Kantonen ähnliche Projekte. Laut der Arbeitsgruppe stimmt aber ein hoher Anteil der Häftlinge dem Screening aus Misstrauen nicht zu.

Arbeitsgruppe 4
Infektionserkrankungen erkennen, Testprojekte gemeinsam mit NGOs
Daniela Staack (Berlin); Christiane Haas (Berlin)

In einem Pilotprojekt in Berlin geht es um das Angebot von HIV- und Hepatitis-C-Schnelltests. Die Arbeitsgruppe diskutierte mögliche Barrieren wie finanzielle Hürden oder fehlende Teilnahmebereitschaft. Und sie diskutierte über die Wichtigkeit von Brückenangeboten. Gerade am und nach dem Ende der Inhaftierungszeit sei die Zusammenarbeit der Gesundheitsdienste in Haftanstalten mit NGOs, die ausserhalb der Haftanstalten arbeiten, essentiell.

Arbeitsgruppe 5
Psychiatrische Versorgung in Haft
Simone Haenggi (Liestal); Nora Affolter (SKJV)

Die Arbeitsgruppe diskutierte verschiedene Ideen und Möglichkeiten, um das Äquivalenzprinzip bezüglich psychiatrischer Versorgung zu sichern. Sie stellte fünf Forderungen auf: Mehr stationäre forensische Plätze zur Krisenintervention. Eine 24-Stunden-Beratung. Eine Aufnahmepflicht für Notfälle in Kliniken. Programme zur Suizidprävention. Und eine Finanzierung für diese Versorgungsleistungen.

Arbeitsgruppe 6
Medizinisches Cannabis in Haft
Karlheinz Keppler (Berlin)

Die Arbeitsgruppe diskutierte über die Abgabe von Medizinal-Cannabis in Haft. Es zeigte sich, dass die Vorgehensweisen in Deutschland und der Schweiz unterschiedlich sind. In Deutschland nimmt bei einem kassenärztlichen Rezept die Kasse eine Prüfung vor. Bei einem Privatrezept hingegen gibt es keine Verpflichtung zur Abgabe. In der Schweiz braucht es eine spezielle Verordnung zur Abgabe. Die Gruppe war sich einig, dass Häftlinge, die über ein Rezept verfügen, weiterbehandelt werden sollten.

Arbeitsgruppe 7
Take Home Naloxon bei Haftentlassung
Simon Fleißner, Heino Stöver, Dirk Schäffer (D)

Wegen der Rückfallgefahr haben opioidabhängige Häftlinge ein stark erhöhtes Sterberisiko bei Haftentlassung. Das Medikament Naloxon hebt innerhalb von Minuten die (atemlähmende) Wirkung von Opioiden im Körper auf. Das Programm Take Home Naloxon schult Häftlinge kurz vor ihrer Entlassung in der Einnahme von Naloxon und stattet sie mit dem Medikament aus. Die Arbeitsgruppe war sich einig, dass es sehr gute wissenschaftliche Argumente für diese Massnahme gibt – und dass es ein wichtiger Ansatz ist, um auf die zunehmende Drogenmortalität nach Haftentlassung zu reagieren.


Fishbowl:
Äquivalenzprinzip leben – ein Blick zurück und Blicke vorwärts

Bei dieser Diskussionsform gaben Teilnehmerinnen und Teilnehmer kurze, abschliessende Statements zur Tagung und zum Thema Äquivalenzprinzip ab. Einige Beispiele:
«Patientinnen und Patienten haben auch in Gefangenschaft Anspruch auf gewissenhafte medizinische Behandlung. Doch die Patientenrechte müssen auch durchsetzbar sein.»

«Eigentlich ist die Strafe für ein Vergehen der Freiheitsentzug. Aber das System macht Häftlinge zusätzlich krank – etwa indem es ihnen ihre Nützlichkeit nimmt oder indem es gesundes Essen verhindert.»

«Die psychiatrische Versorgung von Inhaftierten ist ein Thema der Zukunft. Es wird schwierig werden, genügend Fachleute zu finden.»

«Es gibt auch Bereiche, in denen wir über die Äquivalenz hinausgehen. In Deutschland etwa sind Inhaftierte bezüglich Zahnmedizin oder Brillenabgabe bessergestellt als die breite Bevölkerung.»

«Die Versorgung bestimmter Patientengruppen im Justizvollzug ist in den letzten 20 Jahren besser geworden. Aber es gibt noch viel zu tun.»

«Adäquanz ist vielleicht der passendere Begriff als «Äquivalenz plus»»

Verfasser: Simon Koechlin, freier Wissenschaftsjournalist, September 2023

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